Das Ende der Debatte

In einer Welt, in der immer mehr kommuniziert wird, haben wir dennoch verlernt, miteinander ein echtes Gespräch zu führen. Warum der Niedergang der Debattenkultur nicht nur schlecht für Beziehungen und Demokratien ist, sondern auch Krisen begünstigt. 

 Kommentar libratus.online Juni 2025

Es scheint paradox: Wir leben in einer zunehmend komplexen Welt. Die Dinge sind kompliziert, außerdem einem raschen Wandel unterworfen. Eine neue (wissenschaftliche) Erkenntnis jagt die andere, alles ist im Fluss, in einer Akzeleration, einem immer schnelleren Karussell der Informationen und des globalen Austauschs. Wir kommunizieren scheinbar intensiver. Die Kommunikationskanäle werden immer zahlreicher und immer mehr genutzt.

Aha, jetzt habe ich etwas Neues gehört, einen anderen Blickwinkel kennengelernt. So habe ich das noch gar nicht betrachtet, da ist was dran.

 Vorurteile und Lagerdenken

Das Phänomen ist nicht mehr zu übersehen, es greift um sich und in alle Bereiche ein. Es zerstört Freundschaften, Ehen, Vereine, Teams, Gesellschaften und letztlich auch Beziehungen zwischen Staaten und damit das friedliche Zusammenleben. In unseren Gesellschaften ist man zunehmend nicht mehr in der Lage, sachlich miteinander unterschiedliche Standpunkte auszutauschen. Man hört einander nicht mehr zu. Man ist nicht willens oder hat Angst davor, Vorgefertigtes und Vorurteile abzulegen, Lagerdenken aufzugeben und in einen echten Dialog zu treten.

Das gilt für die Politik ebenso wie für Kirchen, für die Wissenschafts-Community ebenso wie für Freizeitclubs: Bevor noch das Argument ausformuliert wurde, ist das Urteil bereits gefällt; ein Schlagwort parat, das aburteilt. Somit muss und will man sich mit dem Inhalt und der Stichhaltigkeit des Arguments gar nicht mehr auseinandersetzen.

Ein Schaustück dafür liefern seit vielen Jahren die Parlamente. Hier wäre eigentlich der Ort, wo jeder seine Argumente vorbringen kann, um zu versuchen, die anderen Fraktionen zu überzeugen. Doch bereits die Körpersprache zeigt, dass dieser Mechanismus nicht (mehr) greift. Da wird nicht einmal mehr herausgerufen, da wird nicht mehr zugehört, einfach ins Handy gestarrt oder der Sessel bleibt gleich leer.

 

Wie soll jedoch ein ernsthafter Diskurs zustande kommen, wenn divergierende Standpunkte nicht mehr vorgebracht werden (dürfen)? Oder man bleibt unter sich und Gleichdenkenden, was zwar komfortabel ist, aber keinen Zugewinn an Erkenntnis oder neuen Perspektiven bringt. Doch genau dies ist mittlerweile passiert. Man testet ab, welcher Gesinnungsgemeinde sein Gegenüber angehört, und dann öffnet man sich oder wendet sich ab, je nachdem.

Die Themen, die nicht mehr offen und öffentlich diskutiert werden, aus Angst vor Anfeindungen, Reputationsverlust oder gar Jobverlust werden immer mehr, die Liste immer länger: Corona, Trump, Putin, Klima, Israel, Migration, Islam, Ukraine, EU, E-Autos, Energiewende, LGBTQ, ja sogar Mann-Frau. All dies steht heute auf einem imaginären, jedoch umso wirkmächtigeren Index von Themen, zu denen man nur eine bestimmte Ansicht äußern darf, ohne ins Abseits gestellt zu werden.

Es ist somit nicht verwunderlich, dass immer mehr Menschen es nicht mehr wagen, ihre Meinung kundzutun – oder nur noch unter dem Schutzmantel der Anonymität in den sozialen Medien und Postings. Man dürfe doch alles sagen, wird behauptet, es gebe keine Zensur oder Denkverbote. Aber man könne doch Abwegiges – oder was man als solches markiert – doch nicht einfach so stehen lassen, unwidersprochen zulassen. Der Maulkorb wird recht subtil erteilt. Da heißt es dann gerne vorausschickend „Wir sind uns doch alle einig, dass…“ oder „Jeder ernsthafte Wissenschaftler sagt, dass…“ oder „Dieses Argument verwenden auch die Rechtsextremen“. Wer wagt es da noch, die Antithese zu vertreten?

 Man brüllt den anderen nieder

Man diskutiert nicht mehr, man brüllt den anderen nieder. Man bezeichnet jene mit missliebigen Ansichten als „umstritten“, „Leugner“ und mit anderen Codes. Diese signalisieren, dass, ganz gleich was von den Markierten gesagt wird, und sei es noch so vernünftig, faktenbezogen und wahr, nicht akzeptiert wird, nicht ernst genommen werden darf und reflexartig abzulehnen ist. Und dass man diesen keinesfalls eine „Bühne“ bieten dürfe. Dass man sie so lange diskreditiert, bis sie aufgeben und verstummen.

Man wägt nicht mehr das Argument ab, sondern verurteilt den Menschen. Somit dominiert immer mehr das argumentum ad hominem, anstatt in der Sache zu diskutieren. Es ist auch ein Zeichen dafür, dass man keine eigenen guten Argumente hat.

 

In Großbritannien waren sie Tradition, die „Debattierklubs“, ein Florettfechten mit Worten, dem Sieg jenes Diskutanten, der das bessere Argument und die elegantere Formulierung finden und damit das Publikum überzeugen konnte. Mehrere Premierminister sind aus dieser Schule hervorgegangen. Doch auch dort scheint dies aus der Mode, auch dort wird niedergebrüllt und diskreditiert, ausgegrenzt und unliebsame Meinungsäußerungen gar verboten. Wo ist er hin, der Speakers Corner? Großbritannien ist heute ganz weit voraus im Zensieren und Verbieten. Vielleicht auch das ein Grund für dessen raschen Niedergang? Und die EU holt kräftig auf, investiert zig Millionen, damit für sie unangenehme Dinge nicht mehr diskutiert und damit infrage gestellt werden (dürfen).

“Es lohnt sich, zuzuhören, denn der Andere könnte vielleicht doch recht haben!”

Das ist nicht nur schlecht für die Demokratie, zu deren Wesenselementen das Aushandeln von möglichst für alle erträglichen Kompromissen besteht. Das Ende der Kritik ist aber auch das Ende der Vernunft. Es ist auch schlecht für eine Gesellschaft, die auf Wissen und Lernen basiert. Denn somit fällt auch der Lerneffekt weg, der mit der Auseinandersetzung mit neuen Zugängen, Thesen und Argumenten erfolgt.

Somit fehlt nicht nur der Kitt einer funktionierenden Demokratie und Gesellschaft, sondern auch viel an Erkenntnisgewinn. Besonders dramatisch wirkt sich dies in Krisensituationen aus, wie wir erlebt haben. Ohne Einspruch, ohne Korrektiv häufen sich die Irrtümer und Irrwege. Und das ist eine der Konsequenzen des verweigerten Dialogs und unterbundenen Diskurses.  

Vielleicht sollte man eine tiefe Weisheit beherzigen: Wenn man dem Anderen zuhört, muss man nicht dessen Meinung übernehmen oder teilen. Aber es lohnt sich, dennoch zuzuhören, denn der Andere könnte in manchem vielleicht doch recht haben!

 

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Wozu brauchen wir einen „digitalen Euro“?